Genau fünfzig Jahre ist es her, da hat der Muralismo San Sperate in Sardinien erreicht. Die ersten „Wandmalereien im öffentlichen Raum“ gab es schon um 31.500 Jahre vor Christus. Der Begriff des Muralismo hat sich erst in den frühen 20-er Jahren in Mexiko etabliert. An Fronleichnam 1968 haben sardische Künstler die Technik übernommen.
Text: Alexandra Barone, Fotos: Davide Giaganelli
„Es war im Juni vor vielen Jahren. Mein Gedächtnis ist nicht mehr ganz so klar, die Erinnerungen sind gedämpft, eine Mischung aus Enthusiasmus, der Verwunderung so vieler Menschen und viele weiße Wänden! Die von der Sonne gebräunten Gesichter umrahmten ein Lächeln voller Freundschaft und spontaner Teilnahme. Schwielige Hände umklammerten andere Hände. Die lange Corpus-Domini-Prozession wandt sich durch die engen, mit Kalk getünchten Straßen, die rohen Ziegel schmückten sich festlich mit den Zweigen der jungen Leute und mit den ersten Farben an den Wänden. Unbewusst und ganz natürlich begann für San Sperate eine neue Geschichte – eine Geschichte in den Farben der Begeisterung.” (Pinuccio Sciola)
San Sperate und Pinuccio Sciola
Heute ist San Sperate ein Museumsdorf – über 100 Murales schmücken die engen Strassen der kleinen Stadt im Süden Sardiniens, rund 30 Kilometer von Cagliari entfernt. Die Berühmtheit hat die Museumsstadt dem Künstler Pinuccio Sciola zu verdanken, der 1968 von einer Rundreise durch Europa wieder in seine Heimatstadt zurückkehrte. Mit im Gepäck: die Lust, seine Stadt mit Kunstwerken zu verschönern, zu erneuern und zu verändern. Die Initiative der Wandmalerei war geboren.
Murales-Motive spiegeln Alltag der einfachen Bauern wieder
Begeistert unterstützten die Bewohner San Sperates Pinuccio Sciola und Freunde wie Angelo Pilloni, die am Fronleichnamsfest vor genau fünfzig Jahren in einer wahren Performance die weißen Wände der einfachen Häuser bemalten. Die Motive der Wandmalereien spiegeln den Alltag der Bauern wieder. Einige haben auch einen sozialkritischen Zug, was in den nicht verwunderlich ist, was in den damaligen Zeiten der politischen Erneuerungen kein Wunder war.
Tepito und San Sperate: Ein Gedanke, ein Wirkungskreis
Die Idee, nationale, sozialkritischen und historischen Inhalte in Kunst umzusetzen, entstand in den frühen 20er-Jahren in Mexiko mit der Muralismo-Bewegun. Damals verfolgte eine Gruppe von Künstlern das Ziel, durch große, oft monumentale Wandbilder an prestigeträchtigen öffentlichen Gebäuden der größtenteils analphabetische Bevölkerung die Geschichte des Landes näherzubringen. Fasziniert von der Bewegung reiste Pinuccio Sciola 1973 nach Mexiko, wo er den Künstler David Alfaro Siqueiros kennenlernte, einer der Urväter des Muralismo. Ein reger Austausch zwischen dem kleinen Städtchen San Sperate und Tepito, der Altstadt von Mexiko-Stadt begann.
Künstler aus aller Welt besuchen die Kulturstadt
Und nicht nur! Die Initiative zog auch Künstler aus Deutschland, der Schweiz und Holland an. Internationale Größen aus Theater, Musik und Kunst wie Dario Fo, Eugenio Barba, Sun Ra, Cecil Taylor und Don Cherry haben die kleine Stadt während ihrer Tourneen besucht. Damals wie heute wird Kultur und Kunst hoch geschrieben. Mit dem Projekt „Colore Identità“ hat die Gemeinde von San Sperate 2011 gerade junge Leute dazu animiert, ihre eigene Stadt mit Wandmalereien aufzuwerten. Ganz im Sinne von Pinuccio Sciola..